WARUM ICH AUFSTELLE
Dies ist der erste in einer kleinen Reihe von Artikeln, in denen ich mich eingehender mit den Möglichkeiten und Grenzen der Aufstellungsarbeit befassen möchte.
Im Frühsommer 1999, wenige Monate nach dem Tod meines Vaters, saß ich zum ersten Mal in einer Gruppe von Menschen, die sich für ein Wochenende in einem entlegenen Dorf nahe Braunschweig zusammengefunden hatten, um mithilfe von Familienaufstellungen ihren persönlichen Rätseln auf die Spur zu kommen und fühlte mich auf Anhieb…
… fehlbesetzt.
Nicht nur, weil ich mit meinen italienischen Stilettos unter all den Ökolatschen sofort unangenehm aufgefallen war. Ich war auch die einzige, die empört protestierte, als die Gattin des Kursleiters ganz selbstverständlich behauptete, dass Homosexualität eine Krankheit sei. In welcher Hillbilly-Sekte war ich denn hier gelandet? Ich wollte gerade wieder von dannen stöckeln, als meine Sitznachbarin mich darauf hinwies, dass ich mal nicht so intolerant gegenüber einem anderen Standpunkt sein solle und mich dabei anlächelte.
HATTE MAN DA TÖNE!?!
Initiation
Am nächsten Morgen wählte mich eben diese Sitznachbarin als Stellvertreterin für ihre verstorbene Tante aus. Ich zögerte. Wenn ich mich jetzt wirklich darauf einließ zu glauben, dass irgendein mysteriöses „Feld“ mich dazu in die Lage versetzen konnte, die Gefühle eines verstorbenen Menschen zu fühlen, dann würde mein rationales Weltbild in sich zusammenfallen wie ein Käsesoufflé – dessen war ich mir sicher. Während ich mich noch unschlüssig auf meinem Stuhl wand und darüber ärgerte, mich auf diesen Unsinn überhaupt eingelassen zu haben, spürte ich plötzlich, wie sich das Gefühl in meinen Beinen veränderte. Es war, als würden sie von unten nach oben langsam taub werden, absterben. Was, zum Teufel,…? Der Kursleiter fragte nach, als wäre das, was da gerade mit mir passierte, das Normalste auf der Welt. »Es fühlt sich an wie totes Holz«, stammelte ich fassungslos. Meine Sitznachbarin berichtete daraufhin, dass ihre Tante an Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer tödlich verlaufenden, degenerativen Nervenerkrankung gestorben sei: »Sie ist langsam von unten nach oben erstarrt.«
Wendepunkte
Für mich hat dieses Erlebnis einen Wendepunkt in meinem Leben markiert. Nicht etwa, dass mein rationales Weltbild in sich zusammengefallen wäre – stattdessen hat es sich geöffnet, geweitet und Platz gemacht für Erfahrungen, die jenseits meines Verständnisses liegen, wo sie inzwischen einen gleichwertigen Platz einnehmen.
Mir war sofort klar, dass ich hier auf etwas gestoßen war, das ich in allen bisherigen, kognitiv orientierten Therapieversuchen vermisst hatte und zwar die körperlich und emotional unmittelbar spürbare Erfahrung. Noch wusste ich nicht, was ich mit dieser Erfahrung anfangen sollte, wie ich sie für mich und meine persönliche Heilung würde nutzen können. Eines passierte dafür umgehend, sozusagen vollautomatisch: Ich wurde Teil der Gruppe. Das war toll, denn bis dato tat ich mich allgemein schwer mit dem Teil-nehmen, was man mir gelegentlich als antisoziales Verhalten angekreidet hatte. Jetzt, mit einem Mal und ohne dass ich bewusst dazu beigetragen hätte, fand ich einen geschätzten Platz inmitten mir weitgehend unbekannter Menschen, denen ich aus ungeklärtem Anlass bedingungslos vertraute. Ich atmete aus. Das war das zweite fundamentale Ereignis an diesem Tag.
Einer für alle und alle für einen
Eines der größten Potenziale der Aufstellungsarbeit liegt nach meinem Empfinden in eben dieser Zugehörigkeitserfahrung. Sie unterscheidet sich von der, die wir beispielsweise in Vereinen, Parteien, Cliquen oder Religionsgemeinschaften machen können dadurch, dass sie keine gemeinsame Ideologie oder Ziele voraussetzt. Alles, was es braucht, ist die Bereitschaft, sich auf andere Menschen und ihre Sichtweisen einzulassen, die Unterschiede willkommen heißend. Ob und wenn ja, in welchem Maße wir davon profitieren, liegt allein bei uns und wird nicht von der Gruppe oder der Aufstellungsleitung definiert. Einer für alle und alle für einen – mir fällt kein besseres Motto als das der Musketiere ein, um das Wesen dieser Erfahrung auf den Punkt zu bringen. In einer modernen Gesellschaft, die uns tagtäglich das Hohelied von Konkurrenz, Wettbewerb, Gewinnorientierung und Abgrenzung singt, kann diese Erfahrung allein schon für heilsame Entspannung sorgen.
Der Bedeutung von Gemeinschaft, unserem ureigenen Platz darin, dem Bedürfnis danach und dem sinnvollen Umgang mit Gruppenerfahrungen in einem therapeutischen Kontext werde ich in einem eigenen Artikel dieser Serie nachgehen. Es ist mir ein wesentliches Anliegen, diesen Aspekt von Familienaufstellungen einmal näher in den Fokus zu rücken.
Wer hat Angst vor Bert Hellinger?
Hat da übrigens gerade jemand die Nase gerümpft und vielleicht gedacht: „Ureigener Platz“ – das klingt doch verdächtig nach diesem reaktionären Hellinger und seinen ominösen »Ordnungen«?
In der Tat treffe ich noch immer, wenn ich über die Aufstellungsarbeit spreche, auf erregte Gemüter, die sich an der Person Bert Hellingers reiben. Der »Vater« der Familienaufstellungen, inzwischen ehrenwerte 90 Jahre alt, hat offensichtlich nichts von seinem ebenso maßgeblichen wie schlechten Ruf eingebüßt. Noch immer scheinen viele jemanden zu kennen, der jemanden kennt, der mal bei Hellinger war und dort eine traumatische Erfahrung gemacht hat. Ich verstehe das. Auch ich musste weiland 1999 erhebliche »hellingerbedingte« Widerstände überwinden, bis ich mich endlich aufraffte, der Empfehlung eines vertrauenswürdigen Freundes zu folgen und meine erste Aufstellung zu machen. Besagter Kursleiter (der, mit der »empörenden« Frau) war dann auch noch ein direkter Schüler Hellingers und gab mir während meiner Aufstellung jene verpönten »Lösungssätze« vor, die ich auf gar keinen Fall nachsprechen wollte. Mich vor meinem Vater verbeugen und danke sagen? Na, klar doch. Jederzeit. Sobald sich die Hölle mit Eis bedeckt hatte!
Heute, 17 Jahre später, sehe ich das anders. Zwar halte ich Hellingers Lehre der »Ordnungen«, wonach jeder Mensch einen fest vorgegebenen Platz in Familie und Gesellschaft einnimmt, nach wie vor für problematisch, weil sie den evolutionären Aspekt allen Lebens außer Acht lässt. Dafür habe ich in Hellingers Lebenswerk aber etwas entdeckt, das sich als Schlüssel zu meiner Er-Lösung erweisen sollte und zwar das gänzliche Fehlen von Ausgrenzung zugunsten einer uneingeschränkt einschließenden Liebe. Dass das mit reaktionärem Familienkitsch wenig zu tun hat, sondern viel eher zu den schmerzlichen »Verstrickungen« führen kann, in denen ich 1999 mit meinem Vater feststeckte und die mir dank Hellingers Ansatz zum ersten Mal zugänglich wurden, darauf werde ich in einem weiteren Artikel näher eingehen. Ich werde mich darin auch mit Hellingers umstrittener Methodik befassen, sowie seinem gesellschaftlichen Engagement, das ihm u.a. den Vorwurf einbrachte, ein Antisemit, »NS-Verharmloser« und Protofaschist zu sein. Es soll mir dabei nicht um Rechtfertigung gehen. Es geht mir vielmehr darum, das bekannte Entweder-Oder – entweder bist du ein »Jünger« Hellingers oder sein Gegner – durch das etwas flexiblere Sowohl-als-auch zu ersetzen und damit zu einem konstruktiven Umgang mit Bert Hellingers Erbe zu finden.
Systemaufstellungen 2.0
Obwohl sich viele seiner früheren Befürworter inzwischen von der Person Bert Hellingers distanzieren, erfreut sich seine Methode ungebrochener Beliebtheit. Sie hat sich im Laufe der Jahre stärker differenziert als die meisten psychotherapeutischen Verfahren, was viele Vor- und vielleicht auch ein paar Nachteile hat. Etliche Aufsteller haben inzwischen eigene, flexiblere Formate entwickelt, die in vielen verschiedenen Bereichen von Therapie und Coaching Anwendung finden. Sie werden neuerdings unter dem Begriff »Systemaufstellungen« zusammengefasst. In meinem nächsten Artikel werde ich mich mit den unterschiedlichen Ansätzen von Systemaufstellungen näher befassen. Er richtet sich insbesondere an Interessierte, die noch keine bis wenig Erfahrung mit der Methode haben und sich erst einmal orientieren möchten:
Welches Aufstellungsformat passt am besten zu meinem Anliegen?
Was genau ist eigentlich mein Anliegen?
Wie bereite ich mich auf eine Aufstellung vor?
Was muss ich als StellvertreterIn machen?
Was hat es mit diesem ominösen »Wissenden Feld« auf sich?
Woran erkenne ich einen guten Aufsteller oder eine verantwortungsbewusste Aufstellerin?
Was kann ich von einer Aufstellung erwarten?
Wo liegen die Grenzen des in einer Aufstellung »Machbaren«?
Sehr wahrscheinlich werden sich meine Antworten auf diese Fragen von denen anderer Aufsteller in manchen Punkten unterscheiden. Zum Beispiel arbeite ich nicht, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen aus der systemischen Therapie, gezielt auf eine Lösung des Anliegens hin. Vielmehr ziehe ich die Aufstellung zu Rate, um zunächst die innere Dynamik zu erforschen, die dem Anliegen zugrunde liegt. Dazu ist es notwendig, das Schmerzliche anzusehen, ohne es gleich wegmachen zu wollen, es eine Zeitlang zu ertragen, um es annehmen zu können. Nur dann kann die sinnvolle Botschaft gehört werden, die mit dem Schmerz einhergeht und die uns in unsere individuelle Kraft führt. Wir „wachsen“ durch diese Prozesse, unsere Persönlichkeit formt sich aus, und das braucht Zeit.
Eine gute Lösung braucht Zeit
Mir ist das zum ersten Mal deutlich geworden nach meiner ersten Aufstellung 1999. Ich bin damals ziemlich verwirrt in meinen Alltag zurück gekehrt. Was war da nur mit mir passiert? War überhaupt etwas passiert? Was sollte ich jetzt tun? Auf jede dieser Fragen hatte ich dieselbe Antwort:
Keine Ahnung!
Ungefähr ein halbes Jahr später – ich hatte das Erlebnis der Aufstellung schon beinahe vergessen – fiel mir ein altes Foto meines Vaters in die Hände. Da war er, so wie ich ihn als Kind gekannt hatte. Während ich es betrachtete, fiel mir plötzlich auf, dass ich mich anders fühlte als sonst, wenn er in mein Bewusstsein trat. Da war nicht mehr diese Enge in der Brust, der unausgesprochene Zorn im Hals, das Pochen im Schädel. Ich spürte vielmehr etwas Zartes in mir, eine Verletzlichkeit, wie die eines Vögelchens, das aus dem Nest gefallen war. Die Abwesenheit meines Vaters stand plötzlich wie ein Elefant vor mir – Erinnerung und Gegenwart vereinten sich. Ich schaute auf und begann bitterlich zu weinen.
Auch darüber werde ich noch schreiben…
Von Herzen
Christina
Bildquellen:
Happy volunteer family putting their hands together
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Lots Frau von Cornelia Stumm
© Christina Graefe | Foto: Christina Graefe
D’Artagnan und die drei Musketiere von Zurab Tsereteli
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Bert Hellinger 2014
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