WIE WIR ERWACHSEN WERDEN

Der nachfolgende Artikel  ist von PAM WEINTRAUB und erschien zum ersten Mal am 01. Mai 2012 in dem amerikanischen Magazin Psychology Today ⎟  Übersetzung: Christina Graefe ⎟  Original-Artikel von Pam Weintraub in englischer Sprache

 

Der Wegweiser zu wirklichem Erwachsensein ist auch eine Anleitung, die Leidenschaft zurück in unsere Beziehungen zu bringen.

Von Denver bis zu einem Ort in der Nähe von Evergreen im Vorland der Colorado Rockies geht es immerzu bergauf. […] Ich bin auf dem Weg zu einem Interview mit David Schnarch, dem aus New York stammenden Psychologen, der Jahrzehnte damit verbracht hat, alles das, was wir über wahre Liebe, Leidenschaft und heißen Sex zu wissen glaubten, auf den Kopf zu stellen. Besonders über heißen Sex.

 

Ehemals als Ketzer verteufelt, gilt Schnarch heute als anerkannte Stimme in der Psychologie, als Pionier geradezu, der den Begriff Intimität neu definiert und Ehen wieder mit Leidenschaft erfüllt hat, wo sie für gewöhnlich verblasst. „Es ist leicht, heißen Sex mit Fremden zu haben“, betont Schnarch. „Eine leidenschaftliche Ehe erfordert hingegen, dass man erwachsen wird.“

 

Und das, gibt Schnarch zu, ist eine Herausforderung. Zu einem authentisch Erwachsenen zu werden, bedeutet, sich gegen den Mainstream zu stellen. Insbesondere bedeutet es – unter anderem – eigene negative Gefühle ohne die Hilfe eines Anderen selbst bewältigen zu können, eigene Ziele zu verfolgen und auf eigenen Füßen zu stehen. Die meisten Menschen assoziieren diese Fähigkeiten mit dem Single-Dasein. Doch Schnarch vertritt die Ansicht, dass eine Ehe nicht funktionieren kann, solange wir nicht unser Ich-Sein in der Gegenwart eines Anderen behaupten können. Das daraus resultierende Wachstum nährt die Ehe und bringt sie wieder ins Gleichgewicht, was leidenschaftlichen Sex ermöglicht. Das zahlt sich außerdem in anderen Bereichen von Freundschaft bis Kreativität weiterreichend aus.

 

Um zu verstehen, wie subversiv dieser Gedanke ist, sollte man wissen, dass Schnarch seine Theorie über die emotionale und erotische Macht der Unabhängigkeit in Beziehungen just in dem Moment formulierte, als in der Psychologie eine breite Mehrheit beinahe einstimmig Bindung zum Kernelement erwachsener Beziehungen erklärt hatte. Im Gegensatz dazu geht Schnarch sogar davon aus, dass unsere Fokussierung auf Bindung, mit ihrem Ideal der gefühlten und handelnden Einheit, infantile Partnerschaften hervorbringt, die von übermäßiger emotionaler Abhängigkeit geprägt sind – in der Sprache der Psychologie nennt man das „Verstrickung“; Schnarch nennt es „Verschmelzung“.

 

lock in heart shape on the bridge.

 

Bezogen auf Kinder hat die Bindungstheorie durchaus Gültigkeit. Die beständige Aufmerksamkeit einer Bezugsperson erlaubt es einem hilflosen Kleinkind, emotionale Sicherheit/Urvertrauen zu entwickeln, das von seiner zunehmenden Fähigkeit gekennzeichnet als auch überprüft wird, die Welt auf eigene Faust zu erkunden. Überträgt man das auf die Ehe, bedeutet Bindung hier, dass Paare sich ihr Leben lang in emotionaler Sicherheit suhlen können, wenn es ihnen gelingt, dieses frühkindliche Band zu simulieren.

 

Schnarch argumentiert, dass eheliche Bindung den Partnern nicht genug Raum lässt, ihre eigene Meinung zu sagen, eigene Gedanken zu denken, ihre Ziele und Träume aufrecht zu erhalten. Bindung reduziert Erwachsene nicht nur zu Kindern, sie reduziert die Ehe auf eine Suche nach Geborgenheit, Sicherheit und Ausgleich für enttäuschende Kindheitserfahrungen. „Wir haben der Ehe das genommen, was unseren grundlegenden Antrieb nach Autonomie und Freiheit ausmacht“, sagt Schnarch. „Sie ist zu einer Falle geworden, die uns sogar daran hindert, erwachsen zu werden. Anstatt uns zu Kindern zu machen, kann und muss die Ehe zur Wiege für erwachsene Entwicklung werden.“

 

Dieses Ziel erreichen wir über Differenzierung – das ist der dynamische Prozess, durch den man in unmittelbarer Nähe zu einem Partner leben kann und gleichzeitig ein autonomes Gefühl für das eigene Selbst aufrecht erhält. „Mit Differenzierung meine ich, dem Druck zu widerstehen, sich einem Partner, der uns in unserem Leben enorm viel bedeutet, anzugleichen“. Das beste partnerschaftliche Gemisch besteht weder aus Abhängigkeit noch aus Unabhängigkeit, sondern aus einer ausgeglichenen Form von Wechselseitigkeit, behauptet Schnarch.

 

Partner, die beidseits dazu in der Lage sind, ihr eigenes emotionales Erleben zu bewältigen, können sich wechselseitig darauf konzentrieren, ihre eigenen und gegenseitigen Entwicklungsziele im Abgleich mit veränderlichen Voraussetzungen zu erfüllen, anstatt sich gegenseitig vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Wechselseitigkeit zeichnet sich durch Flexibilität aus und die Konzentration auf Stärken. Im Gegensatz dazu verbringen abhängige Partner ihr Leben damit, gegenseitig Defizite und Bedürfnisse auszugleichen.

 

Es ist keine echte Hürde unabhängig zu sein, solange man Single ist, hat Schnarch beobachtet. Hingegen die eigenen Ziele zu verfolgen und für die eigenen Überzeugungen einzustehen, für die persönlichen Vorlieben und Abneigungen, während man sich inmitten einer Beziehung befindet, ist eine ganz andere Sache. Wenn sie in der Beziehung einmal erreicht ist, wird Differenzierung auch außerhalb möglich. Wenn man gegenüber einem bedeutsamen Partner die Stellung halten kann, kann man auch im Büro seinen Platz verteidigen und unter Druck die eigenen Prinzipien aufrecht erhalten.

 

Erwachsensein einzufordern, ist ein evolutionärer Auftrag, betont Schnarch. „Vor 1.2 Millionen Jahren hat sich die menschliche Hirnschale dahingehend entwickelt, ein Gefühl für das eigene Selbst zu unterhalten. Da ist Lust, die romantische Liebe, Bindung. Doch das stärkste Verlangen rührt von der Fähigkeit des Selbst, sich ein anderes Selbst zu erwählen.“ Nur differenzierte Menschen können wirklich um ihrer selbst willen erkannt und geliebt werden.

 

Ein Wandel, der uns die Augen öffnet

Der Weg zur Differenzierung führt geradewegs durch den Sex. Nur eben nicht den üblichen Samstagabend-Sex.

 

Schnarch hat sich in den 1970er Jahren als Sexualtherapeut etabliert, gerade als die Masters und Johnson Ära ihren Höhepunkt erreichte. Für William Masters und Virginia Johnson war Intimität in der Hauptsache eine Sache von mechanischen Abläufen. Angst galt als DER Sex-Killer schlechthin – als Ursache von vorzeitiger Ejakulation, erektiler Dysfunktion und allgemeinem sexuellen Versagen. Um ein Paar von der Angst zu befreien, mussten die Partner zunächst monatelang jeden sexuellen Kontakt vermeiden. Dann wurden sie angeleitet, sich auf ihre körperlichen Empfindungen zu konzentrieren, während sie sich gegenseitig berührten und dabei rückzumelden, wie sich die Berührung verbessern ließe. Schließlich sind sie zum Geschlechtsverkehr übergegangen.

 

Schnarch hielt das für einen jugendlichen Ansatz, der sich ausschließlich auf Technik konzentrierte und dem die tiefere emotionale Verbindung, die die Empfänglichkeit von Erwachsenen erhöht, zuwider war. Als Hochschulassistent der Louisiana State University in New Orleans hörte Schnarch seinen eigenen Patienten zu. Unter ihnen waren ein Ehemann mit Erektionsproblemen und eine Ehefrau, die der Idee einer Sexualtherapie widerwillig gegenüber stand. „ Bleiben Sie mir vom Hals mit diesem gefühlsduseligen Mist“ sagte die Ehefrau und bezog sich damit auf die seinerzeit üblichen Berührungsübungen. In der Tat beruht toller Sex nicht auf Technik, sondern auf dem Gefühl von Nähe.

 

Durch seine Klienten hat Schnarch erfahren, dass verheiratete Paare sich oft wünschen, sie würde im Schlafzimmer dasselbe empfinden, was sie fühlen, wenn sie mit einem oder einer Fremden auf der Straße Blickkontakt aufnehmen. Das Knistern.

 

Das ist wirklich intim – jemandem im die Augen zu sehen während man Liebe macht, den Anderen wirklich SEHEN. Eines der Paare, die Schnarch behandelte, waren Theresa und Philip, die seit 30 Jahren verheiratet waren. Sie hatten noch immer einmal pro Woche Sex, dabei aber einen Orgasmus zu erreichen, war schwierig. Theresa war von Unsicherheit geplagt: Sie haderte mit ihrer Erscheinung und erwartete Zurückweisung, egal was sie tat. An der Schwelle zur Pensionierung dachte Philip darüber nach, ob eine neue Partnerin ihn wohl eher anmachen würde.

 

„Es ging hier um mehr als fehlende Leidenschaft und ein Gefühl des Ungenügens“, bemerkte Schnarch rasch. Nach 30 Jahren küssten sich Theresa und Philip beim Sex nicht mehr. Außerdem beklagte sich Theresa darüber, dass Philip sie grundsätzlich nicht so berühren würde, wie sie es wollte – obwohl sie ihn oft ausdrücklich angewiesen habe, was und wie sie es gerne hätte. Oberflächlich betrachtet, waren sie faul beim Sex. Darunter, so erkannte Schnarch, waren sie isoliert von einander durch eine Angst vor Nähe.

 

Schnarch hat ihnen schließlich geraten, nicht weiter nach speziellen Formen der Berührung zu suchen, sondern einander stattdessen zu fühlen, einer emotionalen Spur in den Sex zu folgen und nicht umgekehrt. Anstatt einfach zu entspannen, um Angst zu mindern, sollten sie das Unbehagen darüber ertragen, gewollt werden zu wollen – und die Gefahr der Zurückweisung, die das birgt.

 

skulpturAußerdem sollten sie beim Sex die Augen offen lassen, eine Erfahrung, die dazu geeignet ist, selbst die distanziertesten Paare aufzurütteln und Veränderung in Gang zu setzen. „Um sich im Blickkontakt mit dem Anderen wohl zu fühlen“, sagt Schnarch, „muss man sich den Konflikten stellen, die unter den Teppich gekehrt wurden. Es ist unwahrscheinlich, dass man dem Partner einen tiefen Blick in die eigene Seele gestatten wird, wenn man dazu zuvor nicht auch selbst getan hat.“

 

Sex mit offenen Augen trifft direkt ins Herz von Differenzierung und fördert den Prozess des Erwachsenwerdens. Partner, die sich mit geschlossenen Augen begegnen, können einander nahe genug kommen, um zu kopulieren, aber nicht nahe genug, um sich mit ihren Unterschieden zu konfrontieren oder sich darauf einzulassen, wer sie wirklich sind. Andererseits erhöht das Unbehagen beim Sex mit offenen Augen die Verbundenheit. Körperliche Empfindung und emotionale Verbindung werden so integriert, anstatt voneinander getrennte Bereiche zu bleiben, die sich in die Quere kommen können. Gleichzeitig wird die Wahrnehmung des eigenen individuellen Selbst gestärkt.

 

Der Weg zur Wechselseitigkeit

Sex mit offenen Augen trug dazu bei, Paare einander näher zu bringen. Weil er aber gleichzeitig konfrontativ ist, schien er sich im direkten Widerspruch mit der Gesamtheit traditioneller Paartherapie zu befinden, die den Kompromiss und ruhige Besonnenheit zum Mittel der Wahl erklärt hatte, um den Problemen bei zu kommen. Da entdeckte Schnarch die Arbeit von Murray Bowen, einem zukunftsweisenden Psychiater an der Georgetown University, der gerade dabei war, die Familientherapie neu zu erfinden. Auch er erkannte die begrenzten Möglichkeiten der Bindungstheorie in Beziehungen.

 

Die klassischen Bindungstheoretiker gehen davon aus, dass Menschen mit emotionalen Problemen zu wenig Liebe und Unterstützung durch ihre Familien erfahren haben. Bowen setzte dem entgegen, dass mehr Liebe und Zuwendung diese Menschen nicht notwendigerweise „ganz“ werden ließe – tatsächlich mache es sie übermäßig abhängig von Liebe. Stattdessen sollten sie die Abhängigkeit überwinden, während sie die Nähe beibehielten – kurz gesagt: indem sie sich von ihren Herkunftsfamilien und ihren Partnern differenzierten, um ihre Individualität aufrecht zu erhalten. Das Ziel sei es, nicht in die Geborgenheit der Kindheit zurück zu fallen, sondern vorwärts zu gehen, um den Prozess des Erwachsenwerdens abzuschließen.

 

In einer Therapiesitzung nach der anderen stellte Schnarch jetzt fest, dass die meisten gefährdeten Paare oft viel zu tief verstrickt in eben jene Beziehung waren, der sie einen Mangel an Nähe vorwarfen. Außerdem fühlten sie sich typischerweise verpflichtet, mit dem Partner überein zu stimmen, anstatt ihren eigenen Gedanken und Handlungen zu vertrauen, den Insignien des Erwachsenen.

 

Ein Paar hatte zu Beginn der Beziehung alles daran gesetzt, einander ihre Kindheitstraumata, alten Liebschaften und andere Lebensereignisse zu offenbaren. Darüber redeten sie stundenlang. In den späteren Ehejahren schreckte der Ehemann allerdings vor eben dem zurück, was er für permanente emotionale Selbstbespiegelung hielt. „Ich mag es nicht, wenn man mich wie einen Hydranten öffnet“, erklärte er. Je mehr sich der Ehemann zurückzog, umso bedürftiger wurde seine Frau, bis die Scheidung in der Luft lag. Da sie sein Mitgefühl einforderte und nichts erhielt, fühlte sich die Ehefrau zurückgewiesen und ungeliebt. Indem sie ihr Selbstwertgefühl von der Sicht ihres Mannes abhängig machte, verkümmerte ihr Selbstvertrauen und das Gefühl für ihren eigenen Wert brach zusammen.

 

Für Schnarch war die Ironie nicht zu übersehen: Der Beziehungsstil des Paares hatte aus der Frau ein Kind gemacht, das so verschmolzen mit dem Partner war, dass sie nicht mehr für sich stehen konnte. Bislang wurde Mitgefühl von Fachleuten als DAS Heilmittel bei Eheproblemen gefeiert. Für Schnarch wurde durch die Forderung nach Mitgefühl nur das Verlangen der Partner nach Zustimmung oder Bestätigung durch den anderen bestärkt, was er „fremdbestätigte Intimität“ nennt. Das Problem: Wer sein Innerstes offenbart und dabei Zurückweisung geerntet hat, wir beginnen, weitere Enthüllungen sorgfältiger auszuwählen. „Sobald wir beginnen, Mitteilungen zu verschleiern, um den Frieden in der Beziehung zu wahren, zerstören wir Intimität und Verlangen und schwächen unser Gefühl für Geborgenheit und Selbstwert“, hat Schnarch beobachtet.

 

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Vergesst Mitgefühl. Schnarch hält „selbstbestätigte Intimität“ für einen besseren Ansatz. „Sie sagen, was sie zu sagen haben, und ihr Partner wird darauf entweder unterstützend reagieren oder sagen: ‚Das ist das Dämlichste, was ich jemals gehört habe’.“ Unabhängig davon klopfen sie sich selbst auf die Schulter, respektieren ihre eigene Meinung und ihre Gefühle und bewahren sich ihren Selbstwert. Anstatt Beifall von jemand anderem zu erbitten, tun sie, was jeder Erwachsene tut – sie bestätigen sich selbst. Die Ironie dabei ist, wenn sie sagen, was wir denken, ohne sich dabei vor Zurückweisung zu fürchten, wird ihr Partner sie mehr lieben und respektieren, weil er weiß, wer sie wirklich sind.

 

Wenn sie in einer Beziehung sie selbst werden, öffnen sie den Raum für einen anderen, dasselbe zu tun. Anstatt davon abhängig zu sein, dass ein Partner ihnen dabei hilft, ihre eigenen Gefühle zu bewältigen und ihr Gleichgewicht zu wahren, können sie einfach wählen, mit ihrem Partner zusammen zu sein. „Sie können ihrem Partner ihre Hand anbieten anstatt nur ihrer Bedürfnisse“, sagt Schnarch. Den ideale Austausch in einer Ehe nennt Schnarch „Interdependenz“, wechselseitige Abhängigkeit, vergleichbar den Zellen eines Organismus. Jede Zelle funktioniert unabhängig für sich, aber der Erfolg im Sinne des Ganzen ist am größten, wenn sie sich mit anderen Zellen zusammenschließt.

 

Die Ehe als System

Je länger Schnarch verheiratete Paare beobachtet hat, um so mehr erkannte her, dass die Ehe ein eigenes System darstellt. Dieses System beinhaltet einzigartige Hürden zur Glückseligkeit. Ihre Aufgabe ist es, den Druck aufrecht zu erhalten, der die Menschen zum Wachstum zwingt.

 

Dazu gehört das „Daten“. Schnarch beschreibt das folgendermaßen: „Wir gehen miteinander aus und sehen dabei nur, was wir sehen wollen. Ich erzähle ihnen einige pseudo-intime, dunkle Geheimnisse, die uns einander nah fühlen lassen und dann haben wir Sex.“ Aber in der Ehe „haben sie vielleicht damit begonnen, über all diese intimen, wichtigen Dinge zu sprechen, aber schließlich sind die aufgebraucht. Dann fangen wir an, Vereinbarungen zu schließen: Ich will Zeit mit den Jungs verbringen. Sie wollen Zeit für ihre Freundinnen haben. Wir sind uns einig. Aber dann haben wir alles aufgebraucht, worüber wir uns einig sind und uns bleibt nur noch das, worüber wir uneins sind.“ Paare stecken nun in einem Patt. Das schürt Ängste. Für Schnarch liegt darin aber die beste Chance, die die meisten Menschen jemals bekommen, um erwachsen zu werden – der Schmelztiegel für eine Feuerprobe.

 

Sue und Brandon waren angehende Schriftsteller, die sich in einem Autoren-Workshop kennen lernten. In den beiden Jahren, die sie miteinander ausgingen, haben sie leidenschaftlich über ihre jeweiligen Geschichten diskutiert, während sie sich mit anderen befreundeten Autoren trafen, um über Kindheitstraumata und Kunst zu brüten. Sex und Independent-Movies vervollständigten das Bild. Die Ehe war doch weit weniger romantisch. Während er für ein Zahnarztmagazin schrieb, was er als Raubbau an seiner Seele empfand, stichelte Brandon gegen Sue, als diese 10 Pfund zunahm und machte regelmäßig ihre Arbeit nieder. Wenn er Stunden mit Videospielen zubrachte, nannte Sue ihn einen „Straßenpenner“. Als einer ihrer Söhne die Diagnose ADS erhielt, schrie Brandon Sue an: „Du hast keine Ahnung wie du ihn in den Griff bekommst.“ „Du bist grausam und wahrlich zerstörerisch“, antwortete sie ruhig.

 

Border

 

Schnarch vergleicht das Patt in der Ehe mit einem komplizierten chinesischen Puzzle, in dem die Partner sich gegenseitig durch ihre jeweiligen Positionen blockieren. Während eines solchen Stillstandes in ihrer Beziehung fingen Brandon und Sue an, ihre jeweiligen Träume zu sabotieren. Der eine wollte ein Apartment in der Stadt, der andere ein Haus in der Vorstadt. Einer wollte, dass die Kinder sich an strenge Regeln halten sollten, der andere wollte unbekümmerten Spaß. Weder wollten sie sich einander anpassen, noch wollten sie sich mit ihren eigenen Rollen in dieser ausweglosen Situation auseinandersetzen.

 

Das Patt in einer Ehe ist unausweichlich. Nach all den mitternächtlichen Beichten und dem wilden Sex, nach alle den Spaziergängen im Park und Ferien mit Freunden, nachdem die Kinder zu Bett gegangen und die Rechnungen bezahlt sind, bleibt nur noch das Patt. Und es gibt nur einen Weg da heraus, wenn sie wollen, dass ihre Ehe bestehen bleibt. Sie können sich da nicht heraus kommunizieren. Sie können sich da auch nicht heraus mitfühlen. Sie müssen lernen, ihr eigenes Unbehagen zu beruhigen, ihre eigenen Gefühle zu regulieren und ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Aufhören, an ihrem Partner zu zerren und Probleme selbst zu bewältigen. Auf diese Weise, so sagt Schnarch, „öffnen wir genug Raum“, um uns näher zu kommen und schaffen Platz, damit die leidenschaftliche Liebe zurückkehren kann.

 

Pattsituationen erzeugen Angst, Gefühle von Zurückweisung und emotionalem Druck, beobachtet Schnarch. Wenn negative Gefühle unerträglich werden, muss sich die Beziehung entweder verändern oder auseinander brechen. Diejenigen, die zusammen bleiben, müssen Innenschau halten, indem sie sich mit ihrer Rolle bei der Aufrechterhaltung des Konfliktes konfrontieren. „Die einzige Lösung ist die, sich zu differenzieren, voran zu schreiten und Platz zu schaffen, damit der Partner ebenfalls wachsen kann.“

 

Von Brandons Kritik an ihren Texten getroffen und behindert, hörte Sue schließlich auf, sie ihm zu zeigen. Stattdessen schickte sie sie an einheimische Zeitschriften. Diese waren deutlich mehr davon angetan, und Sue machte Bekanntschaft mit dem Erfolg, ob Brandon das nun gefiel oder nicht. Brandon transformierte seinen Wunsch, das Leben seiner Kinder zu ordnen, indem er mit ihnen zusammen Sport trieb, eine Lösung, die allen gefiel und in die Sue größtenteils nicht eingebunden war. Als Sue an einem Buchprojekt arbeitete, das beinahe scheiterte, weil ihr Redakteur gefeuert wurde, löste sie das Problem ohne es Brandon gegenüber zu erwähnen, indem sie einen anderen Verleger fand. Er baute sich einen Kreis von Freunden auf, mit denen er wöchentlich Tennis spielte. Das Paar dachte, dass es nur eine Partnerschaftspause eingelegt hätte, aber die Distanz erlaubte es ihnen, sie neu zu verbinden, flexibel auf die Bedürfnisse des anderen zu reagieren und Gesprächsstoff zu haben, der über Kinder und Rechnungen hinaus reichte.

 

Sicher, Differenzierung ist ein komplexer Kraftakt, aber Schnarch hat dazu eine praktische Gebrauchsanweisung verfasst. Angefangen mit einer Liste wesentlicher Fähigkeiten, die ursprünglich von Bowen erstellt worden war – dazu gehören die Fähigkeit Gruppenzwängen zu widerstehen, Beharrlichkeit angesichts schwieriger Situationen und die Bereitschaft zum Richtungswechsel, wenn eine Lage aussichtslos oder zu riskant erscheint – hat Schnarch Feldstudien an mehr als 4000 Personen durchgeführt. Die grundlegenden Bestandteile erwachsener Reife, die er gefunden hat, lassen sich in vier unterschiedliche, miteinander korrelierende Gruppen einteilen, die er die Vier Aspekte der Balance nennt.

 

Dazu gehört einerseits die Fähigkeit, auch unter Konformitätsdruck gemäß der eigenen, tiefen Überzeugungen und Werte zu handeln. Eine andere dreht sich darum, die eigene Gefühlswelt zu regulieren und mit Angst und emotionalen Verletzungen klar zu kommen, ohne sich dabei hilfesuchend an den Partner wenden zu müssen. Eine dritte konzentriert sich darauf, gefasst zu bleiben angesichts schwieriger Menschen oder Situationen ohne dabei wegzuschauen. Die vierte beinhaltet Geduld und Ausdauer angesichts von Niederlagen und Enttäuschungen, um die eigenen Ziele zu erreichen. Die vier Aspekte betonen Widerstandsfähigkeit, da sie überdies die Fähigkeit beinhalten, sich notfalls anzupassen und die Richtung zu ändern, ohne dabei die eigenen Ziele, Absichten oder das Gefühl für das eigene Selbst aus den Augen zu verlieren.

 

Die Psychospielchen beenden

Ganz egal, wie differenziert sie sind, wie eigenständig, wie widerstandsfähig sie werden, eine Beziehung kann trotzdem aus der Bahn geraten. Differenzierung ist notwendig, um eine Ehe zu retten, aber das allein reicht nicht. Schnarch hat herausgefunden, dass Menschen Psychospielchen miteinander spielen, die die Beziehung aufrechterhalten, die Intimität aber zerstören. Es ist wesentlich, den Partner als auch sich selbst mit diesen Spielen zu konfrontieren und die Charade aufzugeben, dass keiner von beiden wisse, was los sei. Bei einem Klientenpaar erkannte Schnarch die Funktionsweise dieser Kollusion besonders deutlich.

 

Ein erzkonservativer Seelsorger suchte nach therapeutischer Behandlung im Zusammenhang mit der Beziehung zu seiner Frau. Der Seelsorger bestand darauf, dass seine Frau zwei Schritte hinter ihm gehen sollte. „Ich verstehe das nicht“, beklagte sich der Seelsorger eines Tages. „Mein Essen ist immer angebrannt und an den Sonntagen ist mein Hemd immer versengt, nachdem sie es gebügelt hat. Warum nur habe ich so eine schlechte Köchin geheiratet?“

 

„Vielleicht ist sie nicht wirklich eine schlechte Köchin“, sagte Schnarch zu seinem Klienten. „Wenn sie hinter ihnen gehen muss, gefällt es ihr vielleicht, auf ihr versengtes Hemd zu sehen.“

 

„Paare beklagen sich immer darüber, dass sie nicht kommunizieren würden“, sagt Schnarch, „aber das stimmt nicht“. Sie begreifen die Dynamik oft ziemlich gut. „Wir halten es für ein Kredo, dass schlechtes Benehmen in angeschlagenen Beziehungen hauptsächlich von guten Absichten herrührt, die schief gegangen sind.“ Schnarch nennt das „die große Lüge“. Für gewöhnlich wissen die Leute, welche Verletzungen sie zufügen und tun es absichtlich.

 

Die meisten Menschen sind sich nicht nur im Klaren darüber, dass sie Psychospiele spielen, sie sind sich darüber im Klaren, dass ihr Partner sich darüber im Klaren ist, dass sie sich darüber im Klaren sind, eine Dynamik, die Schnarch „Mind-Mapping“ nennt, wonach unser Gehirn die Fähigkeit besitzt, eine mentale Karte der Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen zu erstellen. Ein Mann sieht eine übergewichtige Frau auf der Straße und äußert sich gegenüber seiner Ehefrau abfällig über deren Leibesumfang. Dann besteht er darauf, er habe nicht wissen können, dass seine ähnlich gewichtige Ehefrau sich davon verletzt fühlen würde. Am nächsten Tag lässt sich die Frau lang und breit über den Erfolg ihres alten Freundes, den Investmentbanker, aus, obwohl ihr Ehemann gerade seinen Job verloren hat. Irgendwie wissen beide, dass sie den Schmerz gerade heimzahlt. Die heimtückische Natur solchen Austausches könnte eines der bestgehüteten Geheimnisse von Ehen sein. Die Partner befinden sich unausgesetzt in einem stillen Einverständnis, indem sie einen Weg zu gegenseitigem Sadismus bereiten.

 

Ob Partner zu der angsteinflößenden – und enttäuschenden – Einsicht gelangen, dass ihr Partner eine mentale Karte ihres Gehirns angefertigt hat, wobei er ihren Schmerz nicht nur erkannt, sondern auch genossen hat, hängt davon ab, bis zu welchem Grad sie differenziert sind. Diejenigen, die von dieser Erkenntnis überwältigt werden, treten wahrscheinlich umgehend die Rückkehr in die Kollusion an. Der Rückweg für Paare liegt auf der Hand: Sie müssen damit aufzuhören, Psychospielchen zu spielen und ihre verletzende Absicht eingestehen.

 

Bei einem jungen Paar beklagte sich die Frau darüber, dass ihr Ehemann so wenig Interesse an Sex zeige, dass er sich jedes Mal, wenn sie das Thema antippe, in den Keller zurückzog, um dem Konflikt auszuweichen. Doch als die Partner dazu aufgefordert wurden, einander in die Augen zu blicken, war es die Frau, die ausrastete. Sie hatte sich einen Gefährten gesucht, von dem sie wusste, dass er sich nicht emotional einbringen konnte. Ihr Vater war ein grausamer Mann gewesen, und in ihrer Familie schaute sich niemand direkt in die Augen. Die Ehefrau griff ihren Mann als emotionalen Krüppel an, um sich selbst zu schützen. Das Paar hat sich über Streitereien emotional auf einander eingelassen, aber auf einer tieferen Ebene wusste er, dass sie genauso wenig zu Intimität in der Lage war wie er. Indem sie sich gegenseitig konfrontierten, waren sie dazu in der Lage, die Kollusion zu beenden und sich auf den Weg zu machen, ihre Ehe zu verbessern.

 

Zwei Senioren gehen spazieren im Sommer in der Natur

 

Bildquellen:

fotolila ⎟  Kinder sehen in die Ferne ⎟ © S. Kobold

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