IM EINSATZ FÜR DIE LIEBE

 

Von der Schauspielerin zur Therapeutin: Nach einer Krebserkrankung sucht Christina Graefe den Neustart

Von Eva Bender / erschienen im Wiesbadener Kurier 07.07.2016

 

WIESBADEN – Manche Menschen haben Angst vor einem Neustart. Christina Graefe nicht. Als sie 2011 nach Wiesbaden kommt, lässt sie alles zurück: die Stadt, den Beruf, das Haus, den Mann. „Ich habe keine Angst“, sagt sie. „Ich bin nicht der Typ dafür. Ich bin mit einem großen Enthusiasmus nach Wiesbaden gekommen.“ Hier hat sie seitdem nicht nur ein neues Zuhause gefunden, sondern auch beruflichen Erfolg: mit ihrer eigenen Praxis für Systemische Paar- und Sexualtherapie.

 

Christina Graefe ist viele Jahre lang Schauspielerin und Drehbuchautorin für Theater, Film- und Fernsehen. Sie schreibt Drehbücher für Arzt- und Krankenhausserien. Doch 2005 erkrankt sie an Zungenkrebs. Nach eineinhalb Jahren Behandlung übersteht sie den Krebs, fühlt sich aber in ihrem Beruf nicht mehr wohl. „Ich wusste plötzlich aus eigener Erfahrung, dass die Krankenhausserien und das ganze Filmgeschäft mit der Realität wenig zu tun haben.“ Auch die Beziehung zu ihrem Mann zerbricht.

 

Graefe grübelt über den Sinn ihres Lebens nach und stößt dadurch auf ein Verfahren, das ihr schon nach dem Tod ihres Vaters einige Jahre zuvor geholfen hatte: die Systemaufstellung, durch die Beziehungsstrukturen aufgearbeitet werden. Von 2008 bis 2011 macht sie einen Lehrgang zur Systemaufstellerin. Danach beginnt sie eine Ausbildung zur systemischen Therapeutin für Einzel-, Paar- und Familientherapie in Frankfurt und zieht dafür nach Wiesbaden. „Die Stadt habe ich mir richtig ausgesucht“, sagt sie. „Ich wollte einen ganz neuen Anfang und weg aus Berlin.“ Als Therapeutin spezialisiert sie sich auf Paar- und Sexualtherapie, ist seit 2013 auch Heilpraktikerin für Psychotherapie.

 

Direkt nach ihrem Abschluss entscheidet sie sich zur Praxisgründung. „Die Vorbereitung dauerte etwa ein halbes Jahr. Mit der Selbstständigkeit hatte ich viel Erfahrung, wusste aber nicht, wie man eine Praxis führt“, so Graefe. Das Schwierigste sei für sie der Bereich Marketing gewesen. Geholfen habe ihr der Verein Berufswege für Frauen. „Frauen können Dinge anders anpacken“, sagt Graefe. „Und seit meiner Krebserkrankung stehe ich mehr zu meiner weiblichen Intuition und Gelassenheit.“

 

Christina Graefe hat nun in Wiesbaden eine Praxis für Paar und Sexualtherapie Foto: wita⎪Paul Müller

Christina Graefe hat nun in Wiesbaden eine Praxis für Paar- und Sexualtherapie Foto: wita⎪Paul Müller

 

Heute behandelt die 50-Jährige vor allem Patienten zwischen 30 und 50 Jahren – Männer wie Frauen. Manche kommen zu ihr, weil sie sich vom Partner trennen wollen und mehr Klarheit suchen. Andere suchen Hilfe, weil eine sexuelle Störung ihre Beziehung bedroht. „Viele sind aber einfach auch auf der Suche nach sich selbst“, weiß Graefe. „Ich biete ihnen dann eine andere Perspektive, befreie sie aus den Schleifen, in denen sie gedanklich gefangen sind.“ Ihr Ziel als Therapeutin sei es, die Menschen mit Liebe in Verbindung zu bringen, sagt Graefe. Zum Partner und zu sich selbst. „Denn das können wir in unserer Gesellschaft heute schlecht: Wir lieben vielleicht den Partner, aber häufig nicht uns selbst.“

 

Bislang betreibt Graefe ihre Praxis aus den Coaching- und Therapieräumen von der „Frei-Raum“-Gemeinschaft in der Wilhelmstraße aus. Langfristig würde sie aber gerne ihre eigenen Praxisräume haben. „Ich habe viel zu tun, ich bin zufrieden. Es läuft gut“, sagt sie nach zwei Jahren.

 

In ihrer täglichen Arbeit spürt sie noch die Auswirkungen der Krebserkrankung: Das Sprechen und das Schlucken fallen ihr schwer. Deshalb arbeitet sie auch nicht mehr als sechs Stunden am Tag. Doch ihre Einschränkungen können beruflich auch ein Vorteil sein. „Denn Menschen, die mit sexuellen Problemen zu mir kommen, fühlen sich nicht weniger behindert als ich. Sie halten mich gerade wegen meiner Behinderung für kompetent, um ihnen zu helfen.“

 

Ihr selbst haben die Bewältigung der Krebserkrankung und der Neustart geholfen, sagt Graefe heute: „Ich habe das Gefühl, an einem sinnvollen Punkt angekommen zu sein. Und dieses Gefühl kannte ich vorher nicht.“

 

Anderen Gründern rät sie vor allem zu einem guten Selbstwertgefühl. „Man sollte nicht versuchen, die Konkurrenz über den Preis auszustechen“, betont die Therapeutin. „Denn man darf den eigenen Wert nie zu niedrig ansetzen.“

 

 

Text:  Eva Bender⎪Wiesbadener Kurier

Foto:  wita⎪Paul Müller

Link zum Artikel im Wiesbadener Kurier vom 07.07.2016