ROLLENFALLEN – ENG MIT DEM WERTESYSTEM DER ELTERN VERKNÜPFT

 

Rund um die Behauptung „Du klingst wie Deine Mutter“  hat Milijana Magarewitsch für die aktuelle Ausgabe des Magazins STIL.IST  ein Interview mit mir geführt. Darin geht es um Rollenfallen, Verhaltensmuster, Basalganlien und wie diese alle unsere Beziehungen beeinflussen. 

 

Stil.ist: Du klingst wie deine Mutter! Ein ziemlich negativ behafteter Satz. Warum trifft er uns Frauen denn überhaupt so sehr? Was ist denn am Vergleich mit Mama so schlimm?

Graefe: Das hängt im Einzelfall sicherlich davon ab, wie wir unsere Mutter selbst sehen und wie sich unser Verhältnis zu ihr gestaltet. Grundsätzlich kann man aber wohl sagen, dass dieser Satz deshalb kaum positiv aufgefasst werden kann, weil er unterstellt, dass wir nicht erwachsen geworden sind und keine eigenständige Persönlichkeit ausgebildet haben. Er bedeutet: Du bist nur die Kopie von etwas, kein Original. Diese Entwertung der eigenen Person wirkt an sich schon verletzend – ganz unabhängig davon, ob die Mama nun ein Giftzahn war oder nicht.

 

Stil.ist: Umgekehrt werfen wir auch unseren männlichen Partnern vor, sich wie ihr Vater zu verhalten. Ist also die „Rollenfalle“ in tatsächlich allen Beziehungen „vorprogrammiert“?

Graefe: So weit würde ich nicht gehen, denn schließlich sind wir heute, zumindest in der Theorie, alle dazu in der Lage selbst zu wählen, wie wir unsere Beziehungen führen wollen. In der Praxis sieht das allerdings etwas anders aus. Da bleiben wir nach wie vor oft mit dem Wertesystem der Eltern verknüpft. Das gilt übrigens auch für die, die stark gegen die Eltern rebelliert haben. Bleiben diese Konflikte ungelöst oder sogar unbewusst, haben sie die Tendenz, sich in uns festzusetzen und bei der nächstbesten Gelegenheit immer wieder zum Vorschein zu kommen. Am liebsten natürlich in der Partnerschaft, denn die gleicht in der Wahrnehmung von räumlicher und emotionaler Nähe am ehesten den Bedingungen im eigenen Elternhaus.

 

Stil.ist: In der Jugend lehnen wir uns gegen die Eltern auf, im Alter gießen wir die Petunien auch exakt um sieben Uhr morgens und nörgeln am Ehemann herum. Wie passiert diese „Entwicklung“?

Graefe: Als Kinder übernehmen wir unwillkürlich bestimmte Verhaltensmuster von unseren Eltern. Das gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit und wird von den Eltern meistens auch belohnt. Im Laufe der Zeit speichert das Gehirn dieses erlernte Verhalten unter »Gewohnheiten« ab. Dabei selektiert es allerdings nicht nach sinnvollem und schädlichem Verhalten, sondern verankert einfach alles was kommt in den sogenannten Basalganglien. Wenn wir also beispielsweise unsere Mutter in unserer Kindheit im Umgang mit unserem Vater nörgelig erlebt haben, kann es durchaus sein, dass wir dieses Verhalten übernehmen und später in ähnlichen Situationen unwillkürlich wiederholen, selbst dann, wenn auch die Mutter damit schon nicht erfolgreich war.

 

Stil.ist: Was wollen wir mit diesen Vorwürfen überhaupt bezwecken bzw. beim Gegenüber auslösen?

Graefe: Das ist die zentrale Frage! Welchen Sinn macht das Ganze eigentlich? Wollen wir einander wirklich nur in regelmäßig wiederkehrenden Machtkämpfen zur Schnecke machen oder gibt es da vielleicht noch eine verborgene, weniger boshafte Absicht? Der amerikanische Paartherapeut David Schnarch hat über dieses Phänomen viel nachgedacht und es schließlich „ehelichen Sadismus“genannt. Klingt furchtbar, ist es aber nicht. Laut Schnarch ist dieses Verhalten in Beziehungen nämlich nicht nur völlig normal, sondern auch notwendig, um persönliche Reifungsprozesse in Gang zu setzen. „Beziehungen sind Wachstumsmaschinen“ hat er einmal gesagt. Das soll heißen: In der Auseinandersetzung mit unseren Partnern werden wir immer wieder an die ungelösten Konflikte unserer Kindheit und Jugend erinnert und erhalten dadurch die Möglichkeit, sie zu heilen. Denn nur, wenn ich weiß, dass ich wie meine Mutter klinge und anerkenne, dass es so ist, kann ich an meinem Verhalten etwas ändern. Vorausgesetzt natürlich, ich will das überhaupt…

 

Stil.ist: Entwickeln wir denn überhaupt „eigene“ Eigenschaften? Sind auch die positiven auf die Eltern zurückzuführen?

Graefe: Ich würde sogar sagen, das ist Sinn und Zweck der ganzen Zankerei. Wenn wir die Vorwürfe des Partners oder der Partnerin nicht mehr nur als haltlose Verleumdungen abtun, sondern ihm zuhören, ihrer Wahrnehmung trauen und uns ehrlich hinterfragen, haben wir plötzlich die Chance, uns selbst durch ihn oder sie von außen zu sehen. Das ist genau die Distanz, die wir brauchen, um uns selbst klarer sehen zu können und zu entscheiden, ob der Partner oder die Partnerin vielleicht doch ein klitzekleines Bisschen Recht hat und wir gegebenenfalls neue, eigene Positionen einnehmen wollen. Dieser innere Reifungsprozess hat übrigens weniger mit glamouröser Selbstoptimierung zu tun, als mit der schlichten Fähigkeit, uns selbst und die Eltern offen und ehrlich so sehen und annehmen zu können, wie wir nun einmal sind. Auf diese Weise schaffen wir uns dann auch gute Voraussetzungen, die vielen positiven Seiten an uns zu erkennen und zu würdigen, die durch unsere Eltern inspiriert wurden.

 

Stil.ist: Warum haben beide Partner eigentlich so ein großes Problem mit den vermeintlich schlechten Eigenschaften der jeweiligen „Schwiegereltern“? Ein beispielsweise mundfauler Schwiegerpaps bedeutet doch nicht zwangsläufig immer etwas Nachteiliges, oder? Warum akzeptieren wir es nicht einfach als Schrulle?

Graefe: Weil wir es persönlich nehmen. Wenn Schwiegerpaps nicht mit mir redet, dann glaube ich, dass das an mir liegt, weil er mich nicht leiden kann, für eine uninteressante Gesprächspartnerin hält, oder immer noch sauer auf mich ist, weil ich seine Weihnachtsgans nicht essen wollte. Die andere Möglichkeit, dass Schwiegerpaps nämlich von Hause aus eher der introvertierte Typ sein könnte, der ohnehin nur redet, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, wird da schon mal übersehen. Generell kann man wohl sagen, dass die »Urteile«, die wir über andere fällen, häufig weniger mit deren Lieblosigkeit zu tun haben, als mit dem lieblosen Bild, das wir von uns selbst haben.

 

Stil.ist: Und mit einem Augenzwinkern betrachtet: Gibt es überhaupt ein Entrinnen aus der Rollenfalle?

Graefe: Der österreichische Psychiater Viktor Frankl hat das einmal so gesagt: „Zwischen Reiz und Reaktion befindet sich ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion zeigen sich unsere Größe und unsere Freiheit.“

 

 

 

Der Artikel ist zuerst am 10. September 2018 in der Ausgabe 14 des Magazins STIL.IST erschienen.

Foto: © Heinrich Andrae – mit freundlicher Genehmigung