MITEINANDER ODER GEGENEINANDER?

Die Dynamik von Paarbeziehnungen in der systemischen Aufstellungsarbeit nach Bert Hellinger

Gastbeitrag von Dipl. Psych. Heinrich Breuer

 

Von allen Beziehungen ist die Paarbeziehung die größte und wichtigste. Wir verdanken einer Paarbeziehung unsere Existenz, unser Leben entstammt einer Paarbeziehung. Weil das so ist, ist die Paarbeziehung am stärksten mit dem Lebensprozess verbunden, und zwar nicht nur mit den individuellen Formen, in denen dieser Prozess sich darstellt, sondern auch mit den Kräften, die im Hintergrund das Leben begleiten und die Weiterentwicklung vorantreiben. Eine gute und dauerhaft Paarbeziehung zu leben stellt die wichtigste und schwierigste Lernaufgabe dar, die sich uns im Erwachsenenleben stellt. Paare finden zusammen aus ganz archaischen Motiven. Mann und Frau erleben sich als unvollständig, die Frau findet beim Mann das, was ihr fehlt, und umgekehrt findet der Mann bei der Frau das, was er nicht hat. Und indem sie zueinander finden, bekommen sie zudem die Möglichkeit, das Leben weitergeben zu können. Paare kommen also aus diesen beiden Gründen zusammen: Ergänzung der eigenen Unvollständigkeit und Weitergabe des Lebens.

 

Sexualität

 

Das am stärksten verbindende Element der Paarbeziehung ist die sexuelle Liebe, und dies gilt nicht nur für die heterosexuellen Beziehungen. In unserer Kultur ist unter dem Einfluß der christlichen Kirchen der sexuelle Vollzug der Liebe als triebhaft abgewertet worden, Sexualität sollte ausschließlich der Zeugung dienen und ansonsten möglichst beherrscht und unterdrückt werden. Sie war etwas, was die Liebe eher beschmutzt als etwas, was sie in den Gang setzt, beflügelt und vertieft. Das Lustvolle der Erfahrung, das Neue zu finden, dem Eigenen das Fehlende hinzuzufügen, galt als sündig. Die wahre Verbindung zwischen Mann und Frau sollte geistiger Natur sein, die Tiefe der körperlichen Erfahrung von Ergänzung und Vollständigkeit wurde geleugnet. Gerade aber die Erfahrung der Unterschiedlichkeit und die Ahnung, dass der körperliche Vollzug der Liebe etwas Großes ist, läßt Männer und Frauen aufeinander zugehen. In der Sexualität sind beide auf tiefe Art und Weise mit dem Prozess des Lebens verbunden, Sexualität ist mehr als Lust. In ihrer ganzen Fülle kann sie sich entfalten, wenn die Frau mit dem Weiblichen, konkret mit ihrer Mutter und den Großmüttern, und der Mann mit dem Männlichen, konkret mit dem Vater und den Großvätern verbunden ist. Sie finden dann nicht nur zu Lust und Leidenschaft, sondern auch zu der Kraft, zu den Folgen zu stehen.

 

Sexualität ist etwas, was man sich in der Paarbeziehung gegenseitig schuldet, und nicht etwas, was der eine dem anderen gewährt. Wenn der eine immer in der Rolle des Bedürftigen ist und der andere in der Rolle dessen, der geben oder verweigern kann, kommt ein Paar in eine schwierige Konstellation, denn das, was beide zueinander zieht, unterliegt der Kontrolle von nur einem, steht in der Macht von nur einem von beiden. Wenn dieser Mensch mit dem Blick auf den anderen mit dieser Macht umgeht, dann wirkt die Macht nicht trennend. Ist er – aus welchen Gründen auch immer – dazu nicht in der Lage, dann entstehen sofort erbitterte Kämpfe. Der andere muß nämlich dann in anderen Bereichen, in denen er Macht hat oder gewinnen kann, eine ähnliche Form der Kontrolle ausüben, und dann beginnt die negative Seite der Spirale des „wie Du mir, so ich Dir“ sich zu entwickeln.

 

Eine besondere Eskalation innerhalb einer Paarbeziehung findet statt, wenn einer von beiden eine andere Beziehung hat. Normalerweise ist so etwas das Ergebnis einer längeren Entfremdung innerhalb der Beziehung, die meist das Resultat davon ist, dass der „Schuldige“ (Fremdgehende) sich innerhalb der Paarbeziehung nicht hinreichend gewürdigt fühlt, sei es dass er mehr gibt als der andere, sei es dass Kinder oder Arbeit wichtiger sind als die Partnerschaft etc. Der „Unschuldige“ verhält sich dann oft so, als habe er das Recht, den anderen für immer zu behalten und verfolgt ihn, statt seine Anstrengungen darauf zu richten, den anderen durch seine Liebe zurück zu gewinnen. Auch wenn zwei sich ewige Treue versprochen haben – und die Treue ist zweifelsohne ein hoher Wert – bleibt das Versprechen etwas, das man immer wieder erneuern muss. Treue ist etwas, das sich zwei Menschen immer wieder gegenseitig schenken können, nicht etwas, auf das man einen Anspruch hat. Wenn der Unschuldige sich fragt, wie er dazu beigetragen hat, dass der Schuldige sich einen anderen Partner gesucht hat, ist er der Lösung näher als wenn er Vorwürfe macht oder sich zurückzieht. Wenn er den Schritt des anderen darüber hinaus achten kann und von sich aus die Liebe aufrechterhalten will, dann gibt es vielleicht sogar eine gute Lösung.

 

Männer und Frauen

 

Männer und Frauen sind sehr unterschiedlich, die Unterschiede zwischen den Männern und die zwischen den Frauen sind geringer als die zwischen Männern und Frauen. Jeder weiß, dass sich die Unterschiede nicht nur beziehen auf die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, sondern dass Männer und Frauen sich darüber hinaus körperlich und psychisch sehr unterscheiden. Die Brücke zwischen den beiden Hälften des Gehirns ist bei Frauen z.B. erheblich stärker ausgeprägt, was bedeutet, dass Frauen sehr viel schneller umschalten können von analoge auf digitale Prozesse, eine andere Form der Wirklichkeitswahrnehmung haben als Männer. Jungen spielen andere Spiele als Mädchen, auch wenn sie das gleiche Spielzeug hingestellt bekommen. Für Frauen ist Sexualität einfach, wenn sie sich verbunden fühlen und ein Gefühl von Intimität zwischen dem Mann und ihnen besteht, für Männer ist Sexualität die beste Möglichkeit, Verbundenheit und Intimität herzustellen. Was bei den einen die Voraussetzung ist, ist bei den anderen der Weg. Paul Watzlawik vergleicht Frauen mit einem Kreis, der einen Mittelpunkt hat, auf dem dann der emotionale und rationale Pol nahe beieinander liegen. Männer vergleicht er mit einer Ellipse, die zwei Brennpunkte hat. Rationaler und emotionaler Pol sind weit voneinander entfernt, es dauert seine Zeit, bis beide Pole miteinander verbunden werden können. Folgerichtig ärgern sich Männer gerne über die Emotionalisierung, die Frauen in Auseinandersetzungen tragen, und Frauen wundern sich über die Rationalität von Männern, oder – wenn sie einmal zu Gefühlen kommen – ihre Verlorenheit in den Gefühlen.

 

Wir lernen immer mehr über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, täglich kommen neue Untersuchungen auf den Markt, die die Unterschiede deutlich machen, sind aber in unserem Beziehungsalltag oft nach wie vor unfähig, die Unterschiedlichkeit des anderen anzuerkennen. Gleich sind wir nur in der Unvollständigkeit, dem Mann fehlt etwas, was die Frau hat, und der Frau fehlt etwas, was der Mann hat. Beide müssen dies anerkennen und zugeben. Vollständigkeit wird nur in der Paarbeziehung erreicht, wird jeder nur für sich genommen, dann fehlt beiden etwas. Wenn sie eine Paarbeziehung eingehen, müssen sie anerkennen, das die andere Form des Lebens – die männliche oder die weibliche – ebenbürtig, gleich gültig und gleichwertig ist. Ist einer von beiden überzeugt, dass das Männliche dem Weiblichen überlegen ist oder besser ist oder unterlegen ist oder schlechter ist, dann entzieht sich die Erfahrung der Vollständigkeit. Der Mann will dann nämlich die Frau oder die Frau will dann den Mann von der Überlegenheit überzeugen, und das jeweils andere kann sich nicht mehr erschließen, weil die Unterschiedlichkeit des anderen nicht mehr als Ergänzung begriffen werden kann, sondern als minderwertig oder als ein Angriff auf das Eigene erlebt wird. Das Geheimnis einer guten Paarbeziehung liegt also viel mehr in der Anerkennung der Unterschiedlichkeit, als dem Feststellen von Übereinstimmungen, der „richtige Mann“ und die „richtige Frau“ sind anders als man selbst. Die eigenen Grenzen können dann begriffen werden, die Grenzen des anderen respektiert und anerkannt werden, die mühsame Suche nach der Ähnlichkeit hört auf, und die Freude an der Andersartigkeit kann sich entfalten. Und dann kann auch immer wieder das Glück dazu treten.

 

Balance von Geben und Nehmen

 

Neben der Anerkennung und Bestätigung der Unterschiedlichkeit ist die Balance von Geben und Nehmen ein wichtiges Kriterium für die Qualität einer Paarbeziehung. Wenn der eine etwas gibt, ist der andere zum Austausch verpflichtet. Tut er das nicht, dann entsteht ein Ungleichgewicht, das auf Dauer die Beziehung gefährdet. Der Austausch muß aber nicht unmittelbar erfolgen, er erfolgt in der Zeit. Er darf in der Regel auch nicht eingefordert werden, denn dann werden schnell die Kräfte gelähmt, die der andere mobilisiert, um den Austausch vornehmen zu können. Das Geben muß freiwillig bleiben können, d.h. der andere bestimmt den Ort und den Zeitpunkt, an dem er zurückgibt. Die beste Haltung, die man in Bezug auf den Austausch in der Paarbeziehung einnehmen kann, ist darauf zu vertrauen, dass der andere den Ausgleich vornehmen wird, dass er gar nicht anders kann, als es zu tun. Und man muss auch anerkennen, dass nicht nur das Positive, sondern auch das Negative ausgeglichen werden muss.

 

Eine der schmerzlichsten Erfahrungen in Paarbeziehungen ist, dass der andere weniger zurückgeben kann, als man selbst gibt oder etwas anderes zurückgibt, als man braucht. Viele Menschen versuchen dann mehr zu geben, um den anderen dazu zu bringen, endlich das zu geben, was die Beziehung weiter voran bringt. Im Regelfall gerät der Partner dadurch unter Druck und zieht sich vom Austausch weiter zurück, d.h. gibt noch weniger. Richtiger wäre es, sich zurückzunehmen und nicht mehr zu geben, als vom anderen zurückkommt. Man darf auf Dauer nur so viel oder wenig geben, wie der andere zurückgeben will oder kann. Wenn das, was der andere zurückgibt, zu wenig bleibt, hört irgendwann die Beziehung auf, denn die Paarbeziehung braucht einen gewissen Grundumsatz an Nehmen und Geben, und ohne die Grundmenge, die sie zum Leben braucht, geht sie zugrunde.

 

In einer guten Paarbeziehung nimmt der Austausch in Bezug auf das Positive zu und in Bezug auf das Negative ab. Wenn etwas Positives ausgeglichen werden darf, ist man gut beraten, seinem Herzen freien Lauf zu lassen und ein klein wenig mehr zurück zu geben; und wenn etwas Negatives ausgeglichen werden muss, ist man gut beraten, die eigenen Impulse zu zügeln und ein wenig weniger zurückzugeben. Dann nimmt das Gute zu und das Böse ab.

 

Verliebtheit und Liebe

 

Heute entstehen die meisten Paarbeziehungen aus einer Verliebtheit heraus, arrangierte Beziehungen sind eher eine Seltenheit geworden. Frisch verliebte Paare sind fast immer ein wenig verrückt, wenn man Verrücktheit als umfassende Missdeutung der Wirklichkeit versteht. Lieschen betritt das Café, und er schaut sie an, als sei Marylin gekommen; Fritz gibt eine Banalität von sich, und sie tut so, als habe er gerade die Relativitätstheorie abgeleitet. Endlich ist der Prinz gekommen, die Prinzessin hat sich ihm zugeneigt. Die große, leidenschaftliche Liebe hat begonnen, und dass sie Leiden schaffen wird, ist noch außerhalb jeder Kalkulation. Der Traum der Kindheit „und wenn ich groß bin, dann kommt eine/einer, die/der alle unerfüllten Sehnsüchte stillt, und dann ist alles gut“ scheint Wirklichkeit geworden. In diesem Traum zeigt sich, wie sehr die Verliebtheit verbunden ist mit der Enttäuschung, dass die primären Objekte der Liebe, vor allem die Mutter, aber auch der Vater, nicht das gehalten haben, was sie dem kleinen Kind zu versprechen schienen, nämlich „ewige, bedingungslose Liebe, ständiges zur Verfügung stehen, immerwährendes Verständnis und Gewährung aller Wünsche, und dies möglichst schon, bevor das Kind sie selbst als Wunsch fühlt“. Natürlich sind weder Frau noch Mann diesen Erwartungen auf Dauer gewachsen, der Beziehungsalltag korrigiert schmerzlich die Hochgefühle der Verliebtheit, aus dem Prinzen wird der Frosch, aus der Prinzessin die Zicke. Beide stellen plötzlich fest, dass sie unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was in Beziehungen richtig oder falsch ist. Zwar sind sie überzeugt, dass der andere schon einigermaßen richtig ist, aber auch, dass die Eltern aus der anderen Familie in der Erziehung dieses Menschen einige wesentliche Lücken gelassen haben, und dass sie selbst aufgerufen sind, diese Lücken zu füllen. Es beginnt der Prozess der gegenseitigen Erziehung, dessen Berechtigung sich für beide aus der Enttäuschung ableitet, dass der andere doch nicht das hält, was er anfangs scheinbar versprach. Und weil jeder von beiden sich selbst achtet und überzeugt davon ist, dass seine Familie, ihre Regeln und Werte und ihre Art, Probleme zu bewältigen, die richtigen sind, müssen die Erziehungsversuche im Regelfall scheitern. Noch problematischer wird es, wenn einer von beiden überzeugt ist, aus der besseren Familie zu stammen, oder dass die eigene Familie Vorrang hat.

 

Die Lösung besteht in der Anerkennung der Ebenbürtigkeit der beiden Familien. Der andere hat andere Wurzeln, ist anders geprägt, ist anders gefördert und anders begrenzt worden. So wie die Verschiedenheit des anderen als ebenbürtig anerkannt werden muss, so muss auch die Familie des anderen gewürdigt werden. Mann und Frau müssen nicht nur einen Einigungsprozess beginnen, der das Verschiedene von Mann und Frau zusammenführt, sondern auch einen, der die verschiedenen Familien anerkennt, würdigt und liebt. So wie sie erkennen müssen, dass eine Frau dem Mann nicht alles geben kann, was er von Frauen braucht, und dass der Mann der Frau nicht alles geben kann, was sie von Männern braucht, so müssen sie einsehen, dass ihre jeweilige Familie Vor- und Nachteile hat, und dass das Neue, was sie gemeinsam schaffen wollen, Elemente aus beiden Familien und dann vielleicht auch noch eigene Errungenschaften des Paares in sich vereinigen muss.

 

Entwicklung zum Familiensystem und Ordnungen der Liebe

 

Die natürliche Weiterentwicklung der Paarbeziehung ist die Familie, sie existiert in der Familie als das wichtigste Subsystem aber weiter fort. Beim Übergang der Paarbeziehung in die Familie entstehen zwei weitere Subsysteme, nämlich das elterliche System und das System der Kinder. Die Erfüllung des Kinderwunsches bringt also eine erhebliche Veränderung mit sich, das soziale System differenziert sich erheblich und wird komplizierter. Nach der Geburt des ersten Kindes existieren statt zwei Beziehungen sechs Beziehungen, und das System besteht aus drei Subsystemen. Auch die Funktion des Systems wird komplexer. Ging es in der Paarbeziehung nur um die Beziehung zweiter Erwachsener zueinander, so stehen nun zusätzlich die Aufgaben, die mit dem Heranwachsen der Kinder verbunden sind, im Mittelpunkt des Systems. Diese Aufgaben ändern sich permanent je nach Alter der Kinder und führen bei gutem Gelingen dazu, dass die Kinder mit einem Partner ein eigenes System mit Kindern gründen, das dann Vorrang hat vor dem System, dem sie entstammen. Das Familiensystem wird dann wieder zurückgeführt auf das Paarsystem, jedoch auf einer qualitativ anderen Ebene. Im Laufe dieses Prozesses muss die Familie eine Reihe von Anpassungsleistungen erbringen, sie befindet sich nur selten in einem Ruhezustand, der Regelzustand ist eher das Ungleichgewicht. Viele Paare erleben jedoch die Wahrnehmung der Elternaufgaben als etwas, was in der Paarbeziehung neben all den anderen schon beschriebenen Faktoren trennend wirkt.

 

Die Lösung besteht darin, dass das Paar in der Familie sich bei all den Aufgaben den Kindern gegenüber immer wieder darauf besinnt, das beide eine Liebesbeziehung miteinander haben, dass diese Beziehung normalerweise die wichtigste in der Familie ist, und dass es allen gut geht, wenn es den beiden in ihrer Liebesbeziehung gut geht. Sie müssen anerkennen, dass auch in der Liebe eine Rangordnung besteht, dass die Liebe zwischen Mann und Frau an erster Stelle steht, und dass das Paarsystem Vorrang hat vor der Elternschaft.

 

Vor allem die Liebe zwischen Mann und Frau gibt beiden die Kraft, Vater oder Mutter zu sein. Eine andere Kraft, die Elternaufgaben wahrnehmen zu können, kommt aus den Herkunftsfamilien. Ein Kind fühlt sich seinen Eltern tief verpflichtet und kann nicht hinreichend zurückgeben. Wenn es aus dem Haus geht und selbst eigene Kinder hat, kann es das weitergeben, was es von seinen Eltern bekommen hat. Die Liebe zwischen dem Paar und das Bedürfnis nach Ausgleich gegenüber den eigenen Eltern wirken zusammen und machen es ihnen möglich, ihren Kindern den notwendigen Schutz und die notwendige Geborgenheit zu geben.

 

Zur Rangordnung der Liebe gehört auch, dass nach Scheitern einer Ehe die Kinder aus der Ehe Vorrang haben vor einer neuen Beziehung. Mann oder Frau sind in der neuen Partnerschaft in erster Linie Vater oder Mutter für die aus der vorherigen Beziehung stammenden Kinder und erst in zweiter Linie Partner. Wenn die neuen Partner das anerkennen, wird die Liebe zu den neuen Partnern gefördert. Verlangen sie den ersten Platz, dann schaden sie der Liebe und der neuen Partnerschaft.

 

Die Schicksalsbindung

 

Aber auch wenn Paare die Unterschiedlichkeit des anderen und der anderen Familie achten, sich umeinander bemühen und ihre Beziehung immer wieder in den Mittelpunkt des Familienlebens stellen, kann die Beziehung gefährdet werden durch Begrenzungen, die beide aus ihren Ursprungsfamilien mitbringen, und die zu tun haben mit „unsichtbaren Bindungen“ an eine Person aus der Sippe, aus der man stammt. Wir nennen diese Formen von „unsichtbarer Bindung“ Verstrickungen oder Schicksalsbindungen. Partner sind häufig in Vorgänge aus dem Herkunftssystem verstrickt, deren Wirkung erst in der Partnerschaft erlebt wird. Der Hintergrund der Verstrickung ist dem in ihr Befangenen meist unbewußt. Wir tragen in unserem Unbewußten eine Vielzahl von Bildern, in denen Schicksale aus Familie und Sippe verdichtet sind. Wenn z.B. die Tante einer Frau bei einem Unfall verbrannt ist, rea- giert die Frau vielleicht, ohne zu wissen warum, besonders panisch, wenn ihre Kinder mit Feuer spielen. Die Bilder der familiären Schicksale wirken in uns und gehören als Geschichten aus der Familie zu den prägenden Erfahrungen mit dem Leben. Wir greifen vor allem in Krisenzeiten auf sie zurück. Sie dienen uns damit – obwohl wir es nicht wollen – zur Orientierung und tragen etwas Fremdes in die Partnerschaft hinein, das im konkreten Leben der Gemeinschaft keinen Hintergrund hat. Der Partner ist natürlich davon besonders betroffen, und weil er in seiner Familie häufig kein entsprechendes Hintergrundbild hat, fehlt ihm der Zugang zu der Welt, die die Wahrnehmung des anderen bestimmt. Verstrickungen entstehen, wenn im Herkunftssystem einem Menschen die Zugehörigkeit verweigert wurde (Recht auf Zugehörigkeit), wenn ein Mensch einfach totgeschwiegen wird (Bedingung der vollen Zahl) oder wenn jemand aus der Familien zu Lasten eines anderen mehr genommen hat und nicht ausgeglichen hat. Dann übernimmt für diesen Menschen in einer nachfolgender Generation ein anderer die Aufgabe des Ausgleichs, das Frühere hat dann Vorrang. Außerdem scheinen besonders schwere Schicksale oder besonders große Opfer für die Familie lange Schatten in die nachfolgenden Generationen zu werfen.

 

Schicksalsbindungen werden sichtbar als Identifizierung mit dem einen Menschen aus einer vorhergehenden Generation oder als unzureichende Ablösung aus der eigenen Herkunftsfamilie. In der Identifizierung verhält sich der Partner partiell wie der Mensch aus seinem Herkunftssystem, dessen Schicksal ihn besonders berührt und anspricht. Der unzureichenden Ablösung liegt eine Verstrickung mit einem Elternteil zugrunde, die entweder ödipaler Natur ist (d.h. der Partner ist Partnerersatz für einen der Eltern und kann deshalb vom anderen Elternteil nicht nehmen), oder aber einer Parentifizierung entspricht, in der der Partner einen Elternteil oder beide Eltern nicht verlassen kann, weil dieser aus was für Gründen auch immer besonders belastet war und seinen Elternaufgaben nur schwer nachkommen konnte.

 

Zu den Schicksalsbindungen gehören unterschiedliche innere Sätze, die sich im Wesentlichen nach zwei Hauptgruppen ordnen lassen. Die erste Gruppe hat zu tun mit der Nachfolge, im schlimmsten Fall mit dem Satz „ich folge Dir nach in den Tod“, die zweite Gruppe mit der Übernahme von etwas von einem anderen und mit den Sätzen „lieber ich als Du“ und „ich tue es für Dich.“ Dem anderen nachzufolgen oder etwas für einen anderen erledigen zu wollen hat zu tun mit Weggehen aus der Familie aus rätselhaften Impulsen heraus, die der Betreffende oft selbst nicht versteht, aber auch mit schweren Erkrankungen körperlicher und/oder psychischer Art, oder auch mit den Tod suchenden Aktivitäten von gefährlichen Sportarten bis hin zum Suizid. In milderen Formen zeigt es sich in Unfä- higkeit, am Leben teilzunehmen, Verantwortung zu übernehmen, Regeln zu beachten, als Gegenüber zur Verfügung zu stehen. Symptome wie Depressionen, Zwänge, Kontaktprobleme stehen oft in direktem Zusammenhang mit den inneren Bildern aus der Familie und sind als symbolische Lösungsversuche zu betrachten.

 

Die Lösungen, denen wir aus der Verstrickung heraus folgen, sind blind und destruktiv. Zwar sind sie getragen von der Liebe zu Menschen aus dem Herkunftssystem, wurzeln damit in der größten, verbindenden Kraft, sie sind aber auf das Vergangene gerichtet und wenden sich meist gegen die Menschen der Gegenwart. Wenn die Schicksalsbindung sichtbar gemacht wird, entsteht Raum für konstruktive Lösungen, die immer zu tun haben mit Achtung und Respekt, Ehre geben, demütig die Größe des anderen anerkennen, sich der Einmischung in das andere Schicksal enthalten und sich der Gegenwart zuwenden. In anderen Worten: In unseren Schicksalsbindungen sind wir – ohne es zu wissen – assoziiert mit einem anderen Menschen oder seltener mit mehreren anderen Menschen und Ereignissen aus unserem Herkunftssystem. Der Prozess der Lösung erfordert eine Abtrennung, eine Dissoziierung, die nur gelingen kann, wenn wir das Vergangene achten, aber auch unsere Selbsterhöhung aufgeben und Abstand nehmen von dem Versuch, durch eigenen Verzicht die Vergangenheit ändern zu wollen. Dann kann sich die Paarbeziehung voll entfalten, und in der Familie kann jeder den ihm zustehenden Platz einnehmen und behalten.

 

Le Pouget, Oktober 2002

 

Dipl. Psych. Heinrich Breuer

Dipl. Psych. Heinrich Breuer lebt in Köln, wo er in der Psychotherapeutischen Praxisgemeinschaft HypnoSys zusammen mit anderen Kollegen praktiziert. Neben der umfangreichen Kassenarztpraxis als psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie) führt er Selbsterfahrungskurse und Weiterbildungen durch.

 

Weitere Informationen zu Heinrich Breuer und seiner Arbeit

 

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Bildquelle:  © Gerome Viavant / Photographer – mit freundlicher Genehmigung durch den Fotografen

 

Bildmotiv: Skulptur LOVE von Alexander Milov ausgestellt beim BURNING MAN Festival in Nevada 2017