Silver sex
wie die Generation 60+ sexuell tickt
Erika und Justus hält die Liebe jung. Händchenhalten reicht den 74-Jährigen nicht. Zwar sind sie nicht mehr jugendlich knackig. Der Lust tut das aber keinen Abbruch. Sie genießen ihre Sexualität mit mehr Bewusstheit und Zeit. „Altersbedingte Einschränkungen gibt es schon. Die Knochen lassen sich nicht mehr beliebig verbiegen“, gibt Erika zu. Justus bekommt beim Liebesspiel bisweilen einen Wadenkrampf. Doch akrobatische Übungen sind für guten Sex gar nicht nötig. Es gibt auch bequeme Stellungen. Die beiden nennen ihre Lieblingsposition selbstironisch „Seniorenstellung“. Manchmal schlafen sie, wenn es am schönsten ist, auch einfach ein.
Vor allem Frauen wollen ihre Sexualität noch einmal ganz neu entdecken
In Deutschland leben mehr als 22 Millionen Menschen über 60. Laut einer Studie der Universität Rostock räumen 91 Prozent der 74-jährigen Männer und 81 Prozent der gleichaltrigen Frauen Zärtlichkeit einen wichtigen Platz in ihren Beziehungen ein. Sex spielt in der Altersgruppe immerhin bei 61 Prozent der Männer und 21 Prozent der Frauen eine bedeutende Rolle. Zwar hatte sich die sexuelle Aktivität mit dem Alter als Folge hormoneller und physischer Veränderungen verringert. Die Teilnehmer, welche in stabilen Partnerschaften lebten, zeigten sich aber insgesamt mit ihrer Sexualität zufrieden. Dass die Generation 60 Plus noch nicht jenseits von Gut und Böse ist, hat auch die Wiesbadener Paar- und Sexualtherapeutin Christina Graefe festgestellt: „Vor allem bei den Frauen fällt mir auf, dass viele während und nach der Menopause ihre Sexualität noch mal ganz neu entdecken wollen.“
Immer mehr Senioren auf Datingportalen im Internet
Auch auf den Datingportalen im Internet tummeln sich immer mehr Senioren. Manchmal bis hinein ins neunte Lebensjahrzehnt. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wagen die „Alten“ mitunter auch im
Bereich der Beziehungen noch mal einen Neustart. Früher sahen Familie und Umfeld das meist als Verrat am vorherigen Partner. Heute vermitteln die Kinder oft Vater oder Mutter auf Partnersuche:
Wir finden das gut. Du darfst noch einmal glücklich sein. Die Sexualität aber ist nach wie vor meist ein Tabuthema.
Christina Graefe: „Im öffentlichen Raum gilt reife Erotik gemeinhin als unsexy und wird etwa in der Werbung eher mit Blasenschwäche oder Erektionsstörungen in Verbindung gebracht.“ Die Sexualtherapeutin weiß aber, dass ältere Menschen in Wirklichkeit „durchaus regelmäßig befriedigenden und überaus intimen Sex haben können“. Doch diese Information sei zu ihrem Bedauern in unserer Gesellschaft noch nicht angekommen.
Erika und Justus wollen sexuell aktiv bleiben
Erika und Justus möchten sexuell aktiv bleiben, auch für den Fall, dass einer von ihnen pflegebedürftig werden sollte oder im Rollstuhl sitzen müsste. Eine Altersobergrenze für die Lust gibt es für sie nicht. Für intime Kontakte sollte es auch im Pflegeheim einen Raum geben, findet Justus. Auch hier hat es einen gesellschaftlichen Wandel gegeben. Mittlerweile gehört der Bereich „Sexualität in der Pflege“ zu den Top 10 Themen der Altenpflege und ist Teil des Pflichtunterrichts von Aus- und Fortbildung.
Die Liste gesundheitlicher Einschränkungen wird länger
Allerdings wird mit steigendem Lebensalter die Liste gesundheitlicher Einschränkungen immer länger: Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenk- oder Prostataprobleme können Potenz und Libido einen herben Dämpfer versetzen. Christina Graefe rät: „Wer schon mal einen Bandscheibenvorfall hatte, einen Herzinfarkt oder auch nur ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, ist gut beraten, das Liebesspiel entsprechend anzupassen, um noch lange etwas davon zu haben.“ Das müsse nicht nur noch Blümchen-Sex sein. Im Gegenteil. Graefe empfiehlt, sich von unrealistischen Erwartungen zu verabschieden. Dadurch setzten sich viele – beileibe nicht nur ältere Menschen – so unter Druck, dass ihnen die Freude am Sex schon beim Vorspiel vergeht, sofern es überhaupt dazu kommt. Unlust ist in der Sexualtherapie ein häufiges Thema, betrifft aber Menschen jeden Alters. „Frauen etwas mehr als Männer“, berichtet Christina Graefe.
Das Problem wohnt im Kopf
Tatsächlich sei nur bei einem kleinen Prozentsatz dieser Menschen eine organische Ursache, wie etwa eine Störung oder Veränderung im Hormonhaushalt, die Ursache. Das eigentliche Problem der meisten Menschen, die mit sexueller Unlust kämpfen, liegt auch nicht neben ihnen im Bett, sondern wohnt in ihrem Kopf: Neben Konflikten in der Partnerschaft spielen alte Bindungsmuster oder auch bestimmte negative Erfahrungen eine hemmende Rolle.
Für Wolf Michael wird die Liebe im Alter „immer schöner und intensiver, auch die körperliche“. Für den 61-jährigen Seminarleiter und Coach für Persönlichkeitsentwicklung ist sie das beste Mittel, um gesund zu bleiben. Das Alter als Grund für Verzicht auf Sinnlich- und Körperlichkeit hält er für eines der dümmsten Argumente überhaupt. Er plädiert dafür, die Kraft der Sexualität zu nutzen, welche für ihn ein natürlicher Jungbrunnen ist. Michael führt viele Gespräche mit Männern zwischen 50 und 75, die ihm erzählen, wie sich ihr Liebesleben mit dem Älterwerden verändert. Nicht wenige durchlaufen Phasen der Unlust oder gar Impotenz. Sie merken, „dass sie nicht funktionieren können, wie es ihnen die Pornoindustrie vormacht.“
Wolf Michael: „Wir kämpfen gegen die Konditionierung, zu glauben, mit über 50 kannst du nicht mehr‘.“ Dafür sei es wichtig, Gewohnheitsmuster und vorgefertigte Verhaltensstrukturen zu verändern und langsamer, entschleunigter und zärtlicher zu werden. Das Gefühl, Haut auf Haut zu spüren, Berührungen und Gespräche seien die Zaubermittel. „Und mir nichts, dir nichts hast du wieder Sex. Fühlst dich mit einem Mal viel jünger und sogar der Orgasmus ist viel schöner.“
Natürlich bedeuten für einige Frauen die Wechseljahre und damit verbundene hormonelle Umstellungen eine Herausforderung, aber auch sie müssen nicht das Ende der Sexualität bedeuten. Da ist ein verständnisvoller Partner gefragt.
Gedanken an Leistungsdruck verbannen
Dass Lust und Unlust nicht nur eine Frage des Alters ist, zeigen Untersuchungen, wonach etwa 70 Prozent der Frauen aller Altersgruppen beim Sex nicht allein durch vaginale Stimulation zum Orgasmus kommen. Selbst dann, wenn der Mann keine Potenzprobleme hat. Wer es schafft, Gedanken an Leistungsdruck zu verbannen und die Ruhe und Gelassenheit des Alters einfließen zu lassen, hat bessere Chancen, mit seinem Partner Hingabe zu erleben.
Für Christina Graefe hat die reife Liebe deshalb Vorteile: „Wer Zeit hat und sich Zeit nimmt, um Sexualität wirklich zu erleben – anstatt nur auf einen vermeintlichen Höhepunkt hinzuarbeiten – macht vielleicht noch mit über 60 Jahren die Entdeckung, dass der eigene Körper intime Geheimnisse für sich behalten hat, die erst jetzt ans Tageslicht kommen.“
(Der Artikel von Daniela Noack ist am 9.3.2018 im WIESBADENER KURIER und einigen angeschlossenen regionalen Tageszeitungen erschien.